Musik zu unterrichten bedeutet unweigerlich mit historisch gewachsenen geschlechterspezifischen Rollenmustern und Hegemonien konfrontiert zu sein: In vielen Unterrichtsmaterialien wird die Musikgeschichte größtenteils mit einer werkorientierten Kompositionsgeschichte gleichgesetzt und aus einer eurozentrischen, weißen und männlichen Perspektive erzählt. Im Mainstream-Pop werden Geschlechteridentitäten weiterhin überwiegend binär, heteronormativ und hierarchisch performt. Agierende Positionen werden häufiger von Männern und objektivierende Statist*innenrollen mehrheitlich von Frauen besetzt. Und Kinder lernen in ihrer Sozialisation schon früh, dass bestimmte Musikpraktiken oder Musikinstrumente zu ihrer Geschlechteridentität besser ,passen‘ und andere eher ,nicht passen‘ (z. B. Komponieren, Tontechnik, Tanzen, Querflöte- oder Schlagzeugspielen). Kurzum: Genderreflektierter Musikunterricht kann und sollte einen Beitrag dazu leisten, dass Schüler*innen ein kritisches Bewusstsein für ihre musikbezogenen Sozialisationsmuster entwickeln und geschlechtsspezifische Identitätsbegrenzungen behutsam erweitern können.
Unter dieser Zielperspektive entwickelten Studierende des Seminars „Musikunterricht und Gender“ (Leitung: Johann Honnens) im Wintersemester 2020/21 Arbeitsmaterialien für einen genderreflektierten Musikunterricht. Eine musikbezogene Grundlagenarbeit ermöglicht das Material von Ute Jolowicz Musik und Gender, u.a. mit einem Glossar und umfangreichen gendertheoretischen Hintergrundinformationen (bereits erschienen in: Musikland Niedersachen (Hrsg.), Unterrichtsmaterial. Welcome Board – Zu Gast im Klassenzimmer, S. 212–226). Der von Anne Merle Krafeld programmierte Komponistin-O-Mat (erschienen im Musikmagazin VAN) bietet einen praktischen Einstieg, bei dem Schüler*innen unter 250 Komponistinnen aus 20 Jahrhunderten herausfinden können, welche von ihnen am besten zu ihrer Persönlichkeit passt. Einen praxisorientierten Schwerpunkt bietet das Material Stimmperformances von Merle Falk, Hendrik Rüßmann und Yannic Rösch: Schüler*innen lernen hier ausgehend von den Künstler*innen Meredith Monk, Conchita Wurst und ANOHNI mit ihrer Stimme jenseits binärer Vorstellungen eines ,passenden Stimmgeschlechts‘ zu experimentieren und zu komponieren. Im Zentrum der Unterrichtseinheit Geschlechterrollen in Musikvideos von Sophia Bühring, Janet Gräfer und Caroline Schnitzer steht die selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Doing Gender in Videoclips, die am Ende in die Produktion einer eigenen Popkünstler*in mündet. Eine intersektionale Perspektive eröffnet das Unterrichtsmaterial Francisca „Chiquinha“ Gonzaga von Cecilia Crisafulli, Ute Jolowicz und Anne Merle Krafeld. Schüler*innen setzen sich hier mit den vielschichtigen Grenzüberschreitungen einer Komponistin und Dirigentin of Color aus Brasilien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auseinander und lernen Gonzagas Musik u.a. anhand eines Klassenmusizier-Arrangements kennen.
Mit diesen Unterrichtseinheiten laden wir zum kritischen bzw. selbstkritischen Betrachten, Ausprobieren und besonders – angesichts bislang wenig existierender genderreflektierter Musikunterrichtsmaterialien – zur Weitergabe ein. Wir wünschen viel Freude dabei! Bei Kommentaren, Anregungen oder Praxiserfahrungen mit dem Material kann gern eine Email an j.honnens@udk-berlin.de geschrieben werden.