Neurodiversität und Musikunterricht – Eine Handreichung

Inhaltsverzeichnis

Abstract
Einleitung
Neurodiversität – Eine Begriffserklärung
Neurodiversität und Schule
Jenseits der Defizitperspektive: Eine neurodiversitätsreflexive Musikpädagogik

  • Bewusstsein entwickeln
  • Barrieren erkennen und abbauen
  • Unterricht differenziert gestalten
  • An Ressourcen orientieren

Ausblick
Literatur

Abstract

Neurodiversität beschreibt die biologische Tatsache, dass die individuellen neuronalen Eigenschaften jedes Menschen Teil einer natürlichen Variation sind. Diese Vielfalt anzuerkennen und auf dieser Grundlage Gesellschaften und Institutionen – insbesondere Schulen als zentrale Orte gesellschaftlichen Zusammenlebens – (neuro-)inklusiv zu gestalten, ist ein wesentlicher Bestandteil inklusiver Bildungsbestrebungen. In dieser Handreichung möchte ich aufzeigen, wie sich der Begriff der Neurodiversität als Ausgangspunkt einer Verstehensperspektive und einer daraus erwachsenden pädagogischen Haltung in musikpädagogische Kontexte integrieren lässt. Im Mittelpunkt stehen vier Handlungs- und Reflexionsfelder, die Musiklehrkräften Orientierung für eine differenzsensible, ressourcenorientierte und (neuro-)inklusiv gedachte Unterrichtsgestaltung bieten. Die Handreichung richtet sich explizit an Musiklehrkräfte, Lehramtsstudierende und Dozierende der Musiklehrer*innenausbildung. Sie zeigt Wege auf, wie Musikunterricht zu einem Raum werden kann, in dem neuronale Vielfalt als ästhetische, soziale und bildungsrelevante Ressource wirksam wird.

Einleitung

Neurodiversität beschreibt die biologische Tatsache, dass individuelle neuronale Eigenschaften jedes Menschen Teil einer natürlichen Variation sind (Walker, 2014). Während Inklusion und Teilhabe spätestens seit Deutschland Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 fest im bildungspolitischen Diskurs verankert sind, gewinnt Neurodiversität erst in jüngerer Zeit als eigenständige Dimension inklusiver Bestrebungen an Aufmerksamkeit.1 Eine neurodiversitätsorientierte Perspektive erweitert das Verständnis von Inklusion um die Anerkennung unterschiedlicher Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweisen und fordert dazu auf, Bildungsprozesse so zu gestalten, dass diese Vielfalt nicht als Abweichung, sondern als konstitutiver Bestandteil menschlicher Existenz verstanden wird. Schulen übernehmen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle als Orte gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Aushandlung von Differenz.

Für die musikpädagogische Forschung und Praxis stellt die Auseinandersetzung mit Neurodiversität bislang ein wenig beachtetes, zugleich aber dringliches Desiderat dar. Musikunterricht ist immer auch ein Raum des Wahrnehmens, Gestaltens und gemeinsamen Handelns – und damit in besonderer Weise geeignet, Differenzen sinnlich erfahrbar und produktiv werden zu lassen. Zugleich birgt er das Risiko, durch implizite Normen und Selbstverständlichkeiten solche Schüler*innen auszuschließen, deren neuronale Wahrnehmungs- oder Ausdrucksformen von denen der Norm abweichen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie ein Musikunterricht gestaltet werden kann, der neurodiverse Lern- und Ausdrucksweisen anerkennt und als Ressource versteht.

Neurodiversität kann in diesem Kontext zunächst als „Verstehensperspektive“ (Theunissen, 2020, S. 21) verstanden werden, aus der heraus neuronale Prozesse, Aktivitäten und Verschaltungen nicht primär in diagnostischen oder defizitorientierten Kategorien erfasst, sondern als Ausdruck grundlegender Vielfalt menschlicher Existenz gewürdigt werden. Aus einer solchen Perspektive erwächst zugleich eine pädagogische Haltung, die von einem aufrichtigen Interesse am Gegenüber und der Akzeptanz seines individuellen So-Seins geprägt ist. Diese Haltung beeinflusst maßgeblich, wie neurodivergente Personen in Bildungsprozessen adressiert werden (Milton, 2019, S. 3).

Diese Handreichung richtet sich an Musiklehrkräfte, Studierende des Lehramts Musik und Dozierende in der musikpädagogischen Lehrer*innenausbildung. Sie verfolgt das Ziel, Perspektiven für eine Musikpädagogik zu eröffnen, die Neurodiversität nicht nur berücksichtigt, sondern als Bereicherung versteht. Dazu werden zunächst die zentralen Begriffe Neurodiversität, Neurotypik und Neurodivergenz erläutert. Anschließend wird der Blick auf die Institution Schule als soziales und normatives Gefüge gerichtet, das maßgeblich darüber entscheidet, wie neurodivergente Schüler*innen in Bildungsprozessen wahrgenommen, adressiert und unterstützt werden. Darauf aufbauend wird erörtert, wie sich ein (neuro-)inklusiver Musikunterricht2 gestalten lässt und inwiefern Überlegungen einer „neurodiversitätsreflexiven Pädagogik“ (Grummt, 2025, S. 329) fachspezifisch konkretisiert werden können. Im Mittelpunkt stehen dabei vier Handlungs- und Reflexionsfelder, die Lehrkräften im schulischen Alltag Orientierung bieten: Bewusstsein für Neurodiversität entwickeln, Barrieren erkennen und abbauen, Unterricht differenziert gestalten und Ressourcen in den Fokus musikpädagogischer Praxis rücken. Ein abschließender Ausblick bündelt die zentralen Überlegungen und zeigt, dass eine solche Perspektive untrennbar mit der Ausbildung und Professionalisierung von Musiklehrkräften verbunden ist.

Neurodiversität – Eine Begriffserklärung

Unter Neurodiversität versteht man einen integralen Bestandteil menschlicher Vielfalt, der auf die biologische Tatsache verweist, dass sich neuronale Strukturen und Funktionen und damit die Formen des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens von Mensch zu Mensch unterscheiden (Grummt, 2023, S. 11; Kapp, 2020, S. 2–3). Der Begriff entstand in den späten 1990er-Jahren im Umfeld autistischer Selbstvertretungsbewegungen (u. a. Blume, 1997; Singer, 1999) und ist eng mit dem Anspruch verbunden, neurologische Differenz als natürlichen Bestandteil menschlicher Vielfalt anzuerkennen.

Als ein zentraler Meilenstein gilt der Essay Don’t Mourn for Us (1993) des US-amerikanischen Autism-Rights-Aktivisten Jim Sinclair, in dem er die bis dahin dominierende, pathologisierende Sicht auf Autismus scharf kritisiert. Autistische Menschen, so Sinclair, seien nicht defizitäre Varianten nicht-autistischer Personen, sondern eigenständige Subjekte mit einer anderen, aber gleichwertigen Form der Wahrnehmung und Weltbeziehung. Sinclairs Beitrag markierte damit einen Bruch mit einer lange vorherrschenden defizitorientierten Sichtweise, die sowohl durch fragwürdige wissenschaftliche Annahmen als auch durch gesellschaftliche Mythen gestützt wurde und historisch zu menschenfeindlichen „Heilungspraktiken“ wie Elektroschock- oder Festhaltetherapien führte (Berdelmann, 2023, S. 32–39).

Heute ist der Begriff Neurodiversität international etabliert und findet zunehmend auch im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs Verwendung (Theunissen & Sagrauske, 2025, S. 34; Moser, 2025, S. 181).Als eineweiterführende Perspektive aufNeurodiversitätgilt das sogenannte Neurodiversitäts-Paradigma (Walker, 2014). Mit dem Paradigma wird angenommen, dass sich neurologische Funktionen einigerMenschen innerhalb des neurodiversen Spektrums signifikant von denen der neurotypischenMehrheitsgesellschaft unterscheiden können–etwa, weil sie eine atypische Entwicklung in der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung aufweisen: Diese Menschen können im Rahmen des Neurodiversitäts-Paradigmas als neurodivergent bezeichnet werden (Hümpfer-Gerhards et al., 2024, S. 17; Pautsch et al., 2025, S. 172).Die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien – neurotypisch und neurodivergent – ist dynamisch, fließend und kontextabhängig. Um sich als neurodivergent zu verstehen, ist keine medizinische Diagnose erforderlich. Vielmehr betonen neurodivergente Menschen, „dass ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen von einem dominanten sozialen Standard (Neurotypik) abweichen, was weder wünschenswert noch nicht-wünschenswert, weder negativ noch positiv zu verstehen ist“ (Grummt, 2023, S. 12).

Auf Grund der offenen Definition von Neurodivergenz umfasst diese ein breites und nicht abschließend definiertes Spektrum verschiedener neuronaler Variationen (Grummt, 2025, S. 129–131). Neurodivergenzen können sowohl genetisch bedingt und angeboren sein als auch durch veränderte Strukturen des Gehirns oder Nervensystems erworben werden. Für manche Variationen existieren medizinische Diagnosen oder Bezeichnungen, wie etwa Autismus-Spektrum-Störung, Aufmerksamkeitsdefizit-(/Hyperaktivitäts)störung (AD(H)S), Tourette-Syndrom, Legasthenie, Dyslexie oder Lese-Rechtschreib-Störungen (LRS). Auch psychische Erkrankungen wie bipolare Störungen oder posttraumatische Belastungsstörungen können darunterfallen (Baker, 2011, S. 18–19).

Trotz möglicher Überschneidungspunkte von Neurodivergenzen und diagnostizierbaren Störungsbildern, grenzt sich der Begriff Neurodiversität klar von einer medizinisch-pathologischen Sichtweise ab. Letztere betrachtet Neurodivergenz als Defizit oder Defekt und teilt das Spektrum menschlicher Neurokognition in „normal“ und „nicht-normal“ ein. Dabei wird das „Normale“ als überlegen und wünschenswert privilegiert, während das „Nicht-Normale“ als zu korrigierende Schädigung charakterisiert wird (Walker & Raymaker, 2021, S. 5–6). Dahingegen richtet sich ein neurodiversitätsorientierter Ansatz gegen Vorstellungen von ‚Heilung‘ und ‚Anpassung‘ neurodivergenter Menschen (Seng, 2015, S. 274). Stattdessen wird eine Wertschätzung der Vielfalt aller neurologischen Entwicklungsverläufe und Wahrnehmungsweisen betont (Pautsch et al., 2025, S. 173). Der Fokus liegt dabei auf den besonderen Potenzialen eines „non-traditional way of thinking“ (Stewart-Meli & Lozana, 2025, S. 43), das sich unter anderem in der Fähigkeit zum Hyperfokus, einem lateralen, nicht-linearen Denken sowie in der Entwicklung origineller Problemlösungsstrategien zeigen kann.

Die Unterscheidung zwischen Neurotypik und Neurodivergenz dient nicht einer bloßen beschreibenden Differenzierung. Sie wird vielmehr vorgenommen, um auf machtvolle Praktiken und Strukturen aufmerksam zu machen, die neurotypische Normen hervorbringen und privilegieren. Dazu gehören sowohl gesellschaftlich konstruierte Klassifikationen von (An-)Normalität als auch die Gestaltung von Umwelt und Institutionen, die primär auf die Bedürfnisse neurotypischer Menschen zugeschnitten sind. Grummt spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Dispositiv der Neurotypik“ (Grummt, 2025, S. 10).3

In dieser Lesart lassen sich Gruppen von neurodivergenten Personen als Neuro-Minderheiten („neurominorities“) fassen, die von gesellschaftlicher Exklusion und Diskriminierung betroffensein können (Chapman, 2020, S. 220; Walker, 2021). Damit knüpft die Neurodiversitätsperspektive eng an Diskurse um Class, Gender, Ability, Raceund andere Differenzkategorien an, die ebenfalls kritisch auf soziale Ordnungenund Mechanismenverweisen, durch die marginalisierte Gruppen abgewertet und benachteiligt werden (Grummt, 2023, S. 25; Seng, 2015, S. 274).Zu berücksichtigen sind dabei zum einenintersektionale Prozesse. So zeigen zum Beispiel Studien, dass ADHS bei Mädchen und Frauen häufig übersehen oder fehldiagnostiziert wird. Grund dafür ist unter anderem, dass sich das Verhalten von Jungen und Männer mit ADHShäufig externalisierend – also nach „außen“ – zeigt, während sich die Symptome von Mädchen und Frauen eher nach innen richten.Diagnostikverfahren, pädagogische Maßnahmen und Trainingsangebote müssen daher auch unter intersektionalen Gesichtspunkten reflektiert und angepasst werden(Quinn, 2005).

Zum anderen gilt, dass neurodivergente Personen – ebenso wie die zuvor genannten sozialen Kategorien – keine homogene Gruppe bilden. Vielmehr zeichnen sich Neuro-Minderheiten durch eine ausgeprägte interne Heterogenität aus (Gerhards, 2023, S. 90). Diese Heterogenität spiegelt sich sowohl in den unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen als auch in den individuellen Formen der Selbstbezeichnung wider. Viele neurodivergente Personen verwenden etwa weiterhin diagnostische Begriffe wie ADHS oder Autismus als selbstbestimmte Identitätsmarker, ohne sich ausschließlich über diese festlegen zu lassen.

Neurodiversität ist vor diesem Hintergrund als ein explizit politisches Konzept zu verstehen. Mit besonderem Fokus auf neurologische Unterschiede knüpft der Begriff Neurodiversität somit an menschenrechtsbasierte Forderungen nach Inklusion und Teilhabe unter anderem in den Bereichen Bildung, Arbeit, Gesundheit und Kultur an, wie sie etwa in der UN-BRK formuliert sind (Kapp, 2020, S. 4; Grummt, 2025, S. 42). Aus der wachsenden Neurodiversitätsbewegung gingen deshalb internationale Bestrebungen hervor, die sich für die Rechte, Wertschätzung und Sichtbarkeit neurodivergenter Menschen einsetzen, den Abbau von Barrieren einfordern und eine (neuro-)inklusive Gestaltung der Gesellschaft anstreben (Kapp, 2020, S. 2). Die damit verbundenen Forderungen nach Inklusion und Teilhabe gewinnen insbesondere auch im schulischen Kontext an Bedeutung, da hier mitunter zentrale Weichen für gesellschaftliche Partizipation gestellt werden.

Neurodiversität und Schule

Die Bildungsbiografien neurodivergenter Kinder und Jugendliche sind oftmals von strukturellem und sozialem Ausschluss geprägt. Studien zeigen etwa eine erhöhte Prävalenz von Angststörungen bei neurodivergenten Schüler*innen im Vergleich zu Gleichaltrigen mit neurotypischen Entwicklungsverläufen (Pautsch et al., 2025, S. 174), Schüler*innen im Autismus-Spektrum sind überdurchschnittlich oft von Mobbing betroffen (Sagrauske & Lindmeier, 2025; Chou et al., 2020; Maïano et al., 2016), und Kinder mit ADHS werden bereits im Vorschulalter signifikant seltener als „schulfähig“ eingestuft (Schuchardt et al., 2013).4

Obwohl Betroffene über äußerst heterogene Ausprägungen neuronaler Variationen und damit über verschiedenste Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen verfügen, verdeutlichen zahlreiche Befunde, dass schulische Leistungen und das soziale Erleben neurodivergenter Schüler*innen häufig durch Faktoren wie vermindertes Selbstwertgefühl, soziale Exklusion oder erhöhte Schulabwesenheit eingeschränkt werden (Pautsch et al., 2025; Lindmeier, 2025; Chen & Patten, 2021).5 Zurückzuführen ist dies mitunter auf eine normorientierten Ausrichtung schulischer Angebote: Lehrpläne, Förderstrukturen und Unterrichtsmaterialien orientieren sich überwiegend an einer impliziten Normgruppe neurotypischer Schüler*innen und setzen vergleichsweise homogene Kompetenzen in motorischen, sprachlich-kommunikativen, emotional-sozialen und kognitiven Entwicklungsbereichen voraus (Haider et al., 2023, S. 93).

Infolgedessen stoßen neurodivergente Kinder und Jugendliche selbst dann auf erhebliche Hindernisse im schulischen Alltag, wenn ihre Fähigkeiten in den klassischen Lernbereichen Lesen, Schreiben und Rechnen altersentsprechend ausgeprägt sind. Solche Belastungen beeinträchtigen nicht nur ihre Lernaktivität, sondern auch ihre soziale Teilhabe und können zu akuten Krisensituationen im Unterricht führen (Haider et al., 2023, S. 95–96). Häufige Reaktionsweisen auf Überforderung sind etwa sogenannte „Shutdowns“, also das Abkapseln von der Umwelt und ein Rückzug ins Innere, oder sogenannte „Meltdowns“, die sich in extremen, unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen äußern (Moser, 2025, S. 182). Ein weiteres verbreitetes Bewältigungsmuster ist das sogenannte „Masking“: Betroffene versuchen dabei, Überlastungen zu überstehen, indem sie ihre eigene neurodivergente Identität unterdrücken, nach außen hin verbergen und ihr Verhalten an die wahrgenommenen Erwartungen der Umgebung anpassen (Lindmeier, 2025, S. 167).

Um solchen Erfahrungen nachhaltig zu begegnen, braucht es einen Paradigmenwechsel in der pädagogischen Grundhaltung: Weg von einer defizitorientierten Sichtweise auf Neurodivergenz hin zu einer ressourcenorientierten Perspektive, die die Stärken und Potenziale des gesamten neuronalen Spektrums anerkennt. Vor diesem Hintergrund ist es für ein neurodiversitätsorientiertes Verständnisvon Schule und Bildung – und im Sinne des Inklusionsgedanken insgesamt– von zentraler Bedeutung, die Herausforderungen neurodivergenter Schüler*innen nicht als individuelle Schwäche zu deuten, sondern als Ausdruck einer unzureichenden Passung zwischen ihren Bedürfnissen und den strukturellen wie sozialen Bedingungen der Schulumgebung (Moser, 2025, S. 182;Chen & Patten, 2021, S. 2–3; Armstrong, 2012, S. 13–15).

In diesem Zusammenhang plädiert auch Grummt (2025) für eine „neurodiversitätsreflexive Pädagogik“ (S. 329–332). Darunter versteht er eine pädagogische Praxis, die durch einen „konstanten Prozess der Flexibilisierung von Bildungsprozessen, der Raum- und Zeitgestaltung sowie einer Reflexion von Material und Vermittlungsansätzen“ geprägt ist (Grummt, 2025, S. 331). Eine neurodiversitätsreflexive Pädagogik ist stets am Individuum orientiert. Sie nimmt nicht primär Lehrpläne oder didaktische Konzepte zum Ausgangspunkt, sondern das einzelne Kind mit seinen spezifischen Bedürfnissen, Interessen und, nicht zuletzt, neuronalen Lernmöglichkeiten und Potenzialen. Zentrale Voraussetzung dafür ist die kritische Auseinandersetzung mit Differenzverhältnissen sowie die Reflexion des eigenen pädagogischen Handelns im Kontext bestehender Machtstrukturen. Nur im Bewusstsein eigener wie institutioneller Verstrickungen in machtvolle Strukturen lassen sich konkrete Maßnahmen für eine (neuro-)inklusive Schule und Unterrichtspraxis entwickeln (Grummt, 2025, S. 333). Dies schließt auch die Reflexion darüber ein, dass die eigenen Ressourcen und pädagogischen Möglichkeiten begrenzt sind und wesentlich von institutionellen Rahmenbedingungen und strukturellen Vorgaben abhängen, die nachhaltige Veränderungen oftmals erschweren. (vgl. den Ausblick dieser Handreichung).

In jüngeren Forschungsarbeiten und Praxiskonzepten finden sich vermehrt konkrete Ansatzpunkte und Vorschläge für die Umsetzung einer neurodiversitätsreflexiven Pädagogik. Diese nehmen insbesondere die schulischenUmwelt und die dort herrschenden Gegebenheiten in den Fokus ihrer Interventionen (Berdelmann, 2023, S. 34). Inwieweit einige dieser Überlegungen sich für eine (neuro-)inklusive Gestaltung des Musikunterrichts eignen oder fachspezifisch für diesen zuschneiden ließen, möchte ich im nächsten Kapitel darlegen.

Jenseits der Defizitperspektive: Eine neurodiversitätsreflexive Musikpädagogik

Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen (Rommel & Rommel, 2025; Shannon, 2020; Stewart-Meli & Lozada, 2025) sind Neurodiversität sowie das Neurodiversitätsparadigma in der musikpädagogischen Forschung und Praxis bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben. Fachspezifische Überlegungen wurden bisher vor allem im Kontext von Musikunterricht und Inklusion diskutiert. Dort finden sich vielfältige Beiträge: theoretische Grundlagen, konkrete Handlungsvorschläge für den Unterricht, didaktische Impulse, Beispiele aus der Praxis sowie empirische Untersuchungen zu Themen- und Handlungsfeldern eines inklusiven Musikunterrichts (vgl. u.a. Klingmann & Schilling-Sandvoß, 2022; Laufer & Vogel, 2022; Lutz, 2020).

Versteht man inklusiven Musikunterricht als einen Unterricht, der bestrebt ist, den Bedürfnissen aller Lernenden gerecht zu werden, jede Person in ihrer Einmaligkeit anzuerkennen und allen Kindern und Jugendlichen uneingeschränkte Partizipation zu ermöglichen (Schilling-Sandvoß, 2022, S. 7–10), so enthält er implizit auch Forderungen nach einer neurodiversitätsreflexiven (Musik-)Pädagogik. Denn auch diese zielt darauf, Unterrichtsformen und -methoden zu entwickeln, die den unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen im gesamten neuronalen Spektrum gerecht werden und so die übergeordneten Ansprüche inklusiver Bildung konkretisieren. Inklusiver Musikunterricht umfasst somit grundsätzlich immer auch neuroinklusive Ansätze.

Eine besondere Herausforderung liegt dabei in der großen Heterogenität neurodiverser Ausdrucksformen. Entwicklungsverläufe neurodivergenter Lern- und Lebensrealitäten können sich höchst unterschiedlich zeigen. Daraus folgt, dass es den einen neurodiversitätssensiblen Musikunterricht nicht geben kann. Allgemeingültige Rezepte sind weder realistisch noch wünschenswert. Didaktische Ansätze, einzelne Maßnahmen und Methoden müssen vielmehr als offene Möglichkeiten verstanden werden, die im Einzelfall erprobt, reflektiert, angepasst und weiterentwickelt werden sollten (Honeybourne, 2018, S. 52–55).

Zugleich kann neurodiversitätssensibles Lehren und Lernen im Musikunterricht nur dann nachhaltig wirksam sein, wenn es über einzelne Fachstunden hinaus gedacht und in die schulische Gesamtgestaltung eingebettet wird. Barrieren entstehen selten isoliert, sondern wirken zumeist über den Musikunterricht hinaus: Ein*e Schüler*in, der*die in der Pause durch Lärm, schnelle Bewegungen oder soziale Spannungen starkem Stress ausgesetzt war, trägt diese Belastungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in die anschließende Musikstunde hinein. Eine neurodiversitätsreflexive Pädagogik muss daher den Unterrichtskontext überschreiten und schulische Strukturen und Routinen insgesamt in den Blick nehmen.

Vor diesem Hintergrund soll nun der Versuch unternommen werden, die im vorangehenden Kapitel skizzierten Grundsätze einer neurodiversitätsreflexiven Pädagogik in Anlehnung an Grummt (2023) auf den Musikunterricht zu übertragen und fachspezifisch zu konkretisieren. Grundlage dafür bieten bereits die Ausführungen von Juliane Gerland, die ebenfalls für den Einbezug einer vertieften Reflexivität im Umgang mit inklusiven Bildungsprozessen in musikpädagogische Kontexten plädiert und die Ziele einer reflexiven Musikpädagogik pointiert zusammenfasst:

In der Übertragung auf musikpädagogische Kontexte würde dies bedeuten, eine Reflexion der spezifischen musikpädagogischen In- und Exklusionsprozesse anzustreben sowie die Reflexion der entsprechenden fachlichen Macht- und Geltungsansprüche. Weiter gilt es, die Exklusionsauslöser, also die relevanten und wirksamen Differenzlinien sichtbar zu machen sowie die spezifischen musikpädagogischen Exklusionspraktiken (,doing difference‘) zu reflektieren. (Gerland, 2020, S. 5)

An die Überlegungen von Grummt (2023) und Gerland (2020) anschließend werde ich im Folgenden zentrale Ansatzpunkte für eine neurodiversitätsreflexive Musikpädagogik herausarbeiten. Ziel ist es, praxisnahe Handlungs- und Reflexionsfelder zu benennen, die Musiklehrkräften bei der Gestaltung eines (neuro-)inklusiven Musikunterrichts Orientierung geben können. Dabei geht es insbesondere darum, (1) ein Bewusstsein für das Thema Neurodiversität zu entwickeln, (2) Barrieren zu erkennen und abzubauen, (3) den Musikunterricht differenziert zu gestalten und zuletzt (4) die Ressourcen der Schüler*innen in den Mittelpunkt musikpädagogischer Praxis zu stellen.

(1)Bewusstseinentwickeln

Grundsätzlich setzt eine neurodiversitätsreflexive Pädagogik stets eine Sensibilisierung für das Thema Neurodiversität voraus. Dazu gehört ein Bewusstsein dafür, wie sich Neurodivergenz im Alltag konkret ausdrückt, welche identitäts- und anpassungsbezogenen Herausforderungen für die Betroffenen damit verbunden sind, welche Exklusionsmechanismen in einer neurotypischen Gesellschaft wirken und welche Wege zu inklusiven Lernumgebungen führen können (Grummt, 2025, S. 333).

Ein erster Schritt hin zu einer neurodiversitätsreflexiven Musikpädagogik besteht dementsprechend darin, ein Bewusstsein für die impliziten Normen und vorherrschenden neurotypischenSelbstverständlichkeiten zu entwickeln, die das musikalische Lehren und Lernen im Musikunterricht prägen. Diese Normen bestimmen häufig unausgesprochen, was etwa als „gelungen“, „musikalisch“ oder „angemessen“ gilt, und können für Schüler*innen, deren Wahrnehmungs- oder Ausdrucksformen von diesen Maßstäben abweichen, exkludierend wirken (Gerland, 2020, S. 6).

Was für viele ein selbstverständlicher Bestandteil des Musikunterrichts ist, kann deshalb für manche neurodivergente Kinder und Jugendliche zur Stolperstelle werden: So wird etwa das konzentrierte, bewegungslose Zuhören während einer Hörübung vielfach als Zeichen von Aufmerksamkeit gewertet. Für einige Schüler*innen innerhalb des neurodivergenten Spektrums kann es jedoch gerade hilfreich sein, sich beim Zuhören rhythmisch zur Musik zu bewegen oder dabei zu kritzeln, um Informationen besser verarbeiten zu können. Ebenso gilt nonverbale Kommunikation im Kontext des Ensemble- oder Klassenmusizierens häufig als selbstverständlich. Abstimmungen und Einsätze erfolgen vielfach über Blickkontakt. Für Schüler*innen, die direkten Augenkontakt meiden oder ihn als unangenehm erleben, kann es jedoch hilfreich sein, alternative Formen der Abstimmung zu nutzen – etwa durch akustische Signale oder klar strukturierte Abläufe, die ohne direkten Blickkontakt funktionieren.

Um ein Bewusstsein für das Thema Neurodiversität zu schaffen, gilt es nicht nur, den eigenen Musikunterricht kritisch auf implizite, neurotypische Standards zu befragen, sondern auch darum, ein Bewusstsein seitens der Schüler*innen selbst zu fördern (Grummt, 2025, S. 336). Gerade im Musikunterricht eröffnen sich besondere Chancen, dies zu realisieren. Musikalische Praktiken sind in vielen Fällen ein gemeinschaftliches Handlungsfeld, in dem Unterschiede unmittelbar erfahrbar werden, sei es im Hören, Interpretieren, Improvisieren oder Machen von Musik. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit vielfältigen musikalischen Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen können Schüler*innen lernen, die Verschiedenheit der Wahrnehmungsstile nicht als Defizit, sondern als Bereicherung zu verstehen.

Der Musikunterricht bietet hier verschiedenste Anlässe zum Perspektivwechsel. Etwa wenn ein Stück in stark verlangsamtem Tempo gehört wird, wenn Klänge ausschließlich über Körpervibrationen oder Bewegungen erfahrbar gemacht werden oder wenn Kompositions- bzw. Producingprozesse einmal gegen etablierte Hör- und Produktionsgewohnheiten erprobt werden, beispielsweise indem nur bestimmte Klangfarben oder Frequenzbereiche genutzt werden dürfen. Solche Erfahrungen regen zur Reflexion an, indem Schüler*innen ihre eigenen Wahrnehmungserlebnisse teilen und die Vielfalt der Reaktionen sichtbar machen. Im Sinne von Boger (2017) wird so erfahrbar, dass gängige Normalitätsvorstellungen dekonstruiert werden können und Unterschiede in der Wahrnehmung nicht außerhalb der Normalität stehen, sondern Teil einer natürlichen Vielfalt sind.6

Das Thema Neurodiversität lässt sich im Musikunterricht zudem auf inhaltlicher Ebene repräsentativ abbilden: Die Thematisierung von Komponist*innen oder Musiker*innen im Autismus-Spektrum, mit Synästhesie oder anderen Neurodivergenzen machen unterschiedliche und auch neurodivergente Wahrnehmungsweisen sichtbar und normalisieren sie. Vorbilder aus der Popkultur wie Billie Eilish, Lewis Capaldi oder Reneé Rapp, die offen über den Einfluss ihrer Neurodivergenz auf ihr künstlerisches Schaffen sprechen, können dabei eine wichtige Orientierungsfunktion übernehmen.7 So kann Musikunterricht zu einem Raum werden, in dem ein Bewusstsein für Neurodiversität entwickelt wird und neurodivergente Perspektiven zugleich als eine wünschenswerte Erweiterung musikalischer Ausdrucks- und Erfahrungsformen festgeschrieben werden.

(2) Barrieren erkennen und abbauen

Ein zentrales Anliegen eines (neuro-)inklusiven Musikunterrichts ist das Erkennen und Abbauen möglicher struktureller wie sozialer Barrieren (Gerhards, 2023, S. 98). Barrieren können im Musikunterricht dabei auf unterschiedliche Weise auftreten. Schon das Anschlagen, Streichen oder Berühren einer gängigen Handtrommel kann von neurodivergenten Schüler*innen als besonders intensiv erlebt werden. Ob dies als angenehm oder als überfordernd empfunden wird, ist höchst individuell. Auch das gemeinsame Einstudieren eines Stücks im Klassenverband kann herausfordernd sein. Manche neurodivergente Schüler*innen nehmen akustische Reize deutlich stärker wahr. Schon kleine Nebengeräusche wie das Rascheln von Notenblättern können so dominant wirken, dass sie das eigene Musizieren erschweren. Bewegungsorientierte Elemente – etwa ein Stopptanz oder einfache Tanzschritte – können ebenfalls zur Barriere werden, vor allem wenn unerwartete Berührungen auftreten. Während körperliche Nähe von einigen als motivierend erlebt wird, stellt sie für andere eine erhebliche Hürde dar.

Um solche unterschiedlichen Wahrnehmungen zu berücksichtigen und Barrieren abzubauen, ist es entscheidend, die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen zu kennen (Gerhards, 2023, S. 98). Neben herkömmlichen diagnostischen Verfahren können dabei Gespräche mit anderen Fach- und Klassenlehrkräften, Eltern oder Therapeut*innen hilfreich sein. Vor allem aber gilt es, neurodivergente Schüler*innen selbst als Expert*innen ihrer eigenen Erfahrungen ernst zu nehmen. Eine neurodiversitätsreflexive Musikpädagogik bedeutet daher, Räume zu schaffen, in denen Schüler*innen ihre Bedürfnisse frei und ohne Bewertung äußern können (Gerhards, 2023, S. 97).

Zudem stehen für diese Zwecke verschiedene Tools und Interventionen bereit, die Wege und Möglichkeiten aufzeigen, wie Barrieren im Schulalltag erkannt und abgebaut werden können und wie sich zugleich angemessene Vorkehrungen treffen lassen, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Hervorzuheben sei an dieser Stelle das Projekt „Autismus & Schule – schAUT“, in dessen Rahmen ein Instrumentarium in Form eines Schüler*innen-Fragebogens entwickelt wurde. Dieser ermöglicht es Schulen, klassen- oder jahrgangsweise sensorische, kognitive und soziale Barrieren zu identifizieren (Moser, 2025). Mittels eines partizipativen Forschungsansatzes erfassten die Forschenden des schAUT-Projekts zunächst verschiedene schulische Teilhabebarrieren für insbesondere autistische Schüler*innen, um daran anschließend einen „Barrierenfragebogen“ zu konzipieren, in dem Schüler*innen individuelle Aussagen zu insgesamt 25 potenziellen Barrieren tätigen können. Darunter fallen etwa:

„Zu viele Sachen auf einmal, wenn man sich konzentriert“,

„Wenn bekannte Orte und Sachen plötzlich anders aussehen“,

„Gerüche, die stören“,

„Zu helles Licht“,

In der entsprechenden Handreichung des Projekts finden sich zudem jeweils passende Bilder und Beschreibungstexte in einfacher Sprache, um mit den Schüler*innen über die verschiedenen Barrieren ins Gespräch zu kommen sowie unterschiedliche Vorschläge, wie die jeweiligen Barrieren praktisch abgebaut werden könnten (Hümpfer-Gerhards et al., 2024). Die Ergebnisse des Fragebogens liefern dann schul- und sogar klassenspezifische Erkenntnisse darüber, welche Barrieren für die jeweilige Lerngruppe bestehen und welche Maßnahmen für eine (neuro-)inklusive und bedürfnisorientierte Gestaltung der schulischen Umwelt notwendig sind.

Gerade für den Musikunterricht erscheinen die Materialien des schAUT-Projekts besonders anschlussfähig, treten doch viele der erfassten Barrieren – etwa „Lautstärke“, „häufig wechselnde Räume“, „viele und schnelle Bewegungen“ oder „Töne, die andere nicht hören können“ (Hümpfer-Gerhards et al., 2024) – dort in komprimierter Form auf. Diesbezüglich bietet die Handreichung konkrete Strategien zum Abbau solcher Barrieren. So werden für Lautstärkebarrieren etwa das Bereitstellen von Kopfhörern oder auch der Einsatz einer Lärmampel empfohlen, die als Dezibelmesser fungiert und zugleich durch ein Farbdisplay signalisiert, wann der Geräuschpegel zu hoch wird. Auch im Bereich Bewegung und Tanz können bereits einfache Maßnahmen entlastend wirken. Um unerwünschte körperliche Nähe zu vermeiden, bietet sich etwa die Einführung einer strikten Konsens-Policy an: Körperkontakt ist nur dann erlaubt, wenn vorher ausdrücklich gefragt wurde. Ebenso können etwa beim Stopptanz vorher abgesteckte Solo- und Teamzonen eingerichtet werden, die den Schüler*innen Orientierung und Sicherheit geben (Hümpfer-Gerhards et al., 2024, S. 38–42 bzw. S. 90–94).

Das Wissen, das durch Hilfsmittel wie den Barrierenfragebogen, sowie durch diagnostische Verfahren, Beobachtungen oder Rückmeldungen der Schüler*innen selbst erworben wird, sollte konsequent in die Unterrichtsplanung einfließen. Diese kann sowohl didaktische und methodische Aspekte umfassen, genauso wie die Gestaltung und Vorbereitung von Materialien, Medien und Instrumenten. Es bietet Musiklehrkräften somit die Möglichkeit, um gemeinsam mit den Schüler*innen Barrieren sichtbar zu machen und Wege zu einer (neuro-)inklusiveren Musikunterrichtsgestaltung zu entwickeln.

(3)Unterricht differenziert gestalten

Neben der Gestaltung des Lernraums stehen in einem neurodiversitätsreflexiven Musikpädagogik insbesondere die Unterrichtsgestaltung im Zentrum. Diese umfasst sämtliche Bereiche der Unterrichtsplanung, der Unterrichtsvorbereitung sowie die anschließenden Überprüfung und Reflexion der Lern-Lehr-Prozesse (Haider et al., 2023, S. 104). Ziel ist es, Angebote so auszurichten, dass sie den jeweiligen neuronalen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Schüler*innen entsprechen. Gerade im Kontext von Neurodiversität erhält dieses Ziel besondere Relevanz, da es unmittelbar über Teilhabemöglichkeiten und damit über den Lernerfolg der Schüler*innen entscheidet (Gerhards, 2023, S. 98). In diesem Zusammenhang kann es durchaus hilfreich sein, Informationen aus Diagnostik- und Testverfahren zu berücksichtigen, insofern sie eine präzisere Einschätzung individueller Lernbedingungen ermöglichen und damit eine gezielte Differenzierung erleichtern. Maßgeblich bleibt dabei allerdings eine konsequent ressourcenorientierte Perspektive (vgl. hierzu (4)).

Um den unterschiedlichen Voraussetzungen einer neurodiversen Schüler*innenschaft gerecht zu werden, müssen die Angebote und Inhalte des Musikunterrichts also differenziert an die individuellen Fähigkeiten der Schüler*innen angepasst werden (Sallat, 2018, S. 118). So kann es beispielsweise für Schüler*innen mit ADHS hilfreich sein, Aufgabenstellungen in klar strukturierte, kurze Einheiten zu unterteilen oder bewegungsorientierte Aktivitäten zur Fokussierung einzusetzen (Awad-Duqmaq, 2010, S. 144). Für Schüler*innen im Autismus-Spektrum wiederum bieten visualisierende Strukturierungsmaßnahmen hilfreiche Differenzierungsansätze: Visuelle Hilfen wie Tages- oder Aufgabenpläne machen den Ablauf des Musikunterrichts transparent und nachvollziehbar (Haider et al., 2023, S. 110).

Darüber hinaus verweist die musikpädagogische und musiktherapeutische Literatur auf eine Vielzahl fachspezifischer Differenzierungsmöglichkeiten, darunter Ensemble-Arrangements für heterogene Gruppen, gebärden- und symbolunterstützte Kommunikation oder verschiedene Methoden eines sprachsensiblen Musikunterrichts.8 Besonders häufig wird im Zusammenhang Differenzierung auch das Stichwort Digitalität hervorgehoben (u. a. Godau, 2022; Förster, 2022; Eberhard, 2018). Assistive Musiktechnologien wie etwa der „Soundbeam“ – ein digitales Musikinstrument, das berührungslos durch Ultraschallsensoren gespielt wird – oder multisensorische Angebote wie die sogenannten „mehr¬Sinn“-Geschichten des KuBus e.V. können neue Formen musikalischer Erfahrung eröffnen und knüpfen an unterschiedliche neuronale Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen an. Auch mediale Unterstützungssysteme wie Schriftlesegeräte, visuelle Signalgeber oder Talker können individuelle Kommunikations- und Wahrnehmungsbarrieren abbauen (Sallat, 2018, S. 119; Eberhard, 2018, S. 22).

Darüber hinaus lassen sich digitale Medien gezielt zur methodischen Differenzierung einsetzen: Sie bieten Möglichkeiten zur Produktion von Podcasts oder Stop-Motion-Filme, ebenso wie interaktive Apps, die Lerninhalte in unterschiedlichen Modalitäten (Bild, Ton, Text, Video) aufbereiten und so verschiedene neuronale Lern- und Verarbeitungsweisen adressieren.9 Schließlich können digitale Tools auch die Teilhabe sichern, wenn eine direkte Anwesenheit neurodivergenter Schüler*innen im Klassenraum nicht möglich ist. So können beispielsweise Whiteboard-Inhalte oder Musikstunden per Webcam in einen Ruhe- oder Nebenraum übertragen werden, um Schüler*innen bei Überlastung ein temporäres Zurückziehen zu ermöglichen, ohne den Anschluss an den Unterricht zu verlieren.

(4)An Ressourcen orientieren

Neben der Notwendigkeit, Bedürfnisse von neurodivergenten Schüler*innen inklusiv zu berücksichtigen und Teilhabebarrieren abzubauen, bedeutet eine neurodiversitätsreflexive Musikpädagogik auch, Neurodivergenz nicht als Defizit zu betrachten, sondern die individuellen Potenziale und vorhandenen Stärken der Schüler*innen in den Mittelpunkt zu stellen und zu fördern. Der Musikunterricht wird in dieser Perspektive primär als ein Ermöglichungsraum verstanden, in dem individuelle Fähigkeiten sichtbar und wirksam werden können. Dies erfordert zugleich eine kritische Reflexion darüber, welche Kompetenzen und Themenfelder im Unterricht überhaupt Anerkennung finden können: Schließlich heißt Ressourcenorientierung im Musikunterricht auch, anzuerkennen, dass alle Schüler*innen über Stärken verfügen, die weit über das hinausgehen, was in herkömmlichen musikunterrichtlichen Kontexten üblicherweise vermittelt wird (Löbbert & Ziegenmeyer, 2025, S. 344).

Im Kontext einer neurodiversitätsreflexiven Musikpädagogik schließt Ressourcenorientierung zudem ein verändertes Verständnis bestimmter Verhaltensweisen ein, die bislang häufig als defizitär oder störend wahrgenommen wurden. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte „Stimming“ – repetitive Bewegungen wie Handflattern, Schaukeln oder Drehen, die vor allem von autistischen Menschen zur Emotionsregulation oder zur Verarbeitung sensorischer Reize genutzt werden. Während solche Ausdrucksformen in schulischen Kontexten oft als problematisch gelten, eröffnet eine neurodiversitätssensible Perspektive die Möglichkeit, sie als legitimen Selbstausdruck, als Quelle von Freude und sogar als kommunikativ-musikalische Praxis zu verstehen (Bakan, 2015, S. 153–154). Für den Musikunterricht bietet ein solches Re-Framing die Chance, alternative Formen und Verständnisse des In-der-Welt-Seins und des Musikalischen anzuerkennen.

Darüber hinaus verändert ein ressourcenorientiertes Verständnis zugleich das Bild von Musikunterricht selbst, insbesondere dort, wo Musik und musikbezogene Praktiken bislang vor allem als Mittel zum Zweck betrachtet und therapeutische oder transferbezogenen Ziele in den Vordergrund gestellt wurden. Wenngleich ein solcher Zugang durchaus wertvolle Effekte haben kann, greift er dennoch zu kurz, wenn Musikunterricht dadurch auf seine Nützlichkeit für die „Heilung“ oder „Therapie“ von Neurodivergenzen reduziert wird. Denn, wie Irmgard Merkt es zusammenfasst, „[e]ine musikalische Aktivität nur deshalb therapeutisch zu nennen, weil sie von Menschen mit Behinderung ausgeführt wird, bedeutet die Zuschreibung einer grundsätzlichen Therapiebedürftigkeit“ (Merkt, 2019, S. 159).

Da eine solche Sichtweise auf Musikunterricht dem anti-pathologischen Verständnis von Neurodiversität grundlegend widerspricht, gilt es in einer neurodiversitätsreflexiven Musikpädagogik, Musik als eigenständige Ausdrucks- und Kommunikationsform ernst zu nehmen: Als ästhetische, multisensorische und ganzkörperliche Erfahrung, die keiner äußeren Rechtfertigung bedarf. Ein ressourcenorientierter Blick eröffnet damit die Möglichkeit, Musikunterricht als Raum für kreative Vielfalt und individuelle Stärken zu gestalten.10

Ausblick

Der Begriff der Neurodiversität und seine politisch-emanzipatorische Ausrichtung eröffnet die Möglichkeit, pädagogisches Handeln nicht an normativen Vorstellungen von „Normalität“ auszurichten, sondern an der Anerkennung und Wertschätzung unterschiedlicher Wahrnehmungs-, Denk- und Ausdrucksweisen. Eine neurodiversitätsreflexive Musikpädagogik versteht sich nicht als starres Set von Methoden, sondern als eine Verstehensperspektive und Haltung, die Vielfalt als konstitutives Element von Lernprozessen begreift. Sie zielt zugleich darauf, defizitorientierten Internalisierungsmustern entgegenzuwirken, Schüler*innen vor stereotypisierenden Zuschreibungen und damit verbundenen Stigmatisierung zu schützen und Lernende in der Entwicklung eines Selbstverständnisses zu unterstützen, das nicht durch Anpassungsdruck bestimmt ist. Die im vorliegenden Beitrag beschriebenen Handlungs- und Reflexionsfelder eignen sich demnach nicht nur für neurodivergente Schüler*innen, sondern können insgesamt zu einer Lernkultur beitragen, die individuelle Unterschiede als Ressource nutzt und damit immer allen Lernenden zugutekommt – unabhängig davon, wo sie sich innerhalb des neurodiversen Spektrums verorten.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass Lehrkräfte im schulischen Alltag ebenso wie im Musikunterricht erheblichen strukturellen und organisatorischen Belastungen ausgesetzt sind (Schilling-Sandvoß, 2022, S. 8). Eine wertschätzende Haltung oder guter Wille allein genügen daher häufig nicht, um die Anforderungen eines (neuro-)inklusiven Musikunterrichts nachhaltig umzusetzen. Zeitliche Engpässe, ungünstige räumliche Bedingungen, unzureichende Ausstattung, hoher Leistungsdruck oder das Fehlen institutioneller Unterstützung können den pädagogischen Handlungsspielraum erheblich einschränken (Eberhard, 2022, S. 278). Um die hier beschriebenen Ansätze einer neurodiversitätsreflexiven Musikpädagogik in die schulische Praxis zu überführen, bedarf es daher verlässlicher struktureller und institutioneller Rahmenbedingungen, die Lehrkräfte gezielt entlasten und unterstützen.

Eine zentrale Voraussetzung dafür ist die Verankerung des Themas Neurodiversität in der (Musik)Lehrer*innenausbildung. Die Gestaltung einer Schule, die Barrieren abbaut und individuelle Voraussetzungen anerkennt, hängt maßgeblich von der pädagogischen Haltung des schulischen Personals ab (Gerhards, 2023, S. 99). Entsprechend muss die Auseinandersetzung mit Neurodiversität integraler Bestandteil von Aus- und Weiterbildung sein. Dabei gilt es, Musiklehrkräften sowohl Räume zur persönlichen Reflexion zu eröffnen als auch Kompetenzen für eine neurodiversitätssensible Unterrichtspraxis zu vermitteln. Während für andere Fächer – etwa den Englischunterricht (Gotling et al., 2024) oder den Französischunterricht (Schauwecker, 2024) – bereits hochschuldidaktische Konzepte vorliegen, steht eine systematische Einbindung in die musikpädagogische Lehrer*innenausbildung bislang noch aus.

Auch die musikpädagogische Forschung erfordert eine Weiterentwicklung: Um konkrete Maßnahmen zur Teilhabe und zum Abbau von Barrieren zu erforschen, sollten die Erfahrungen neurodivergenter Personen selbst in den Forschungsprozess einbezogen werden. Hierfür eröffnen etwa partizipative Forschungsansätze die Möglichkeit, dass neurodivergente Menschen als Expert*innen in eigener Sache aktiv an der musikpädagogischen Forschung und Wissensproduktion beteiligt sind (Gerhards, 2023, S. 89–90).

Ein Blick in die Zukunft einer neurodiversitätsreflexiven Musikpädagogik zeigt somit: Entscheidend ist die Entwicklung einer Haltung, die neuronale Vielfalt anerkennt, Strukturen kritisch reflektiert, institutionell getragen wird und in Forschung wie Ausbildung systematisch verankert ist.

Literatur

Armstrong, T. (2012). Neurodiversity in the Classroom: Strength-based Strategies to Help Students with Special Needs Succeed in School and Life. ASCD.

Awad-Duqmaq, S. (2010). Musikpädagogische Arbeit mit ADHS-Kindern im Grundschulalter unter Einbeziehung musiktherapeutischer Ansätze. WiKu.

Bakan, M. B. (2015). The Musicality of Stimming: Promoting Neurodiversity in the Ethnomusicology of Autism. MUSICultures, 41(2), 133-161.

Baker, D. L. (2011). The Politics of Neurodiversity. Why Public Policy Matters. Lynne Rienner Publishers.

Berdelmann, K. (2023). Neurodiversität und Wissen über Autismus im pädagogischen Fachdiskurs – eine historisch vergleichende Perspektive. In C. Lindmeier, M. Grummt, & M. Richter (Eds.), Neurodiversität und Autismus (pp. 29-46). Kohlhammer.

Blume, H. (1997). Autistics, freed from face-to-face encounters, are communicating in cyberspace. The New York Times.

Boger, M.-A. (2017). Theorien der Inklusion – eine Übersicht. Zeitschrift für Inklusion, 1. https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/413

Bossen, A., Hüttmann, R., Krämer, O., & Ziegenmeyer, A. (2023). Sprachsensible Musikpädagogik. Diskussion Musikpädagogik 98(2).

Chapman, R. (2020). Defining neurodiversity for research and practice. In H. Rosqvist, N. Chown, & A. Stenning (Eds.), Neurodiversity Studies: A new critical paradigm (pp. 218-220). Routledge.

Chen, Y.-L., & Patten, K. (2021). Shifting focus from impairment to inclusion: Expanding occupational therapy for neurodivergent students to address school environments. American Journal of Occupational Therapy, 75(3), 1-7. https://doi.org/https://doi.org/10.5014/ajot.2020.040618

Chou, W.-J., Wang, P.-W., Hsiao, R. C., Hu, H.-F., & Yen, C.-F. (2020). Role of School Bullying Involvement in Depression, Anxiety, Suicidality, and Low Self-Esteem Among Adolescents With High-Functioning Autism Spectrum Disorder. Frontiers in Psychiatry, 11. https://doi.org/https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.00009

Day, A.-M. (2022). Disabling and criminalising systems? Understanding the experiences and challenges facing incarcerated, neurodivergent children in the education and youth justice systems in England. Forensic Science International: Mind and Law, 3, 1-9. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/j.fsiml.2022.100102

Eberhard, D. M. (2018). Musikunterricht 4.0 – Digitale Medien im inklusiven Musikunterricht. Potenziale, Nutzungsmöglichkeiten und Grenzen. Zeitschrift ZLB.KU (Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), 2, 19-24.

Förster, A. (2022). Digitale Musikinstrumente im sonderpädagogischen Kontext. Eine explorative Erhebung mit Musiklehrer*innen an Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt. In M. Göllner, J. Knigge, A. Niessen, & V. Weidner (Eds.), 43. Jahresband des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung. (pp. 61-78). Waxmann.

Francés, L., Quintero, J., Fernández, A., Ruiz, A., Caules, J., Fillon, G., Hervás, A., & Soler, C. V. (2022). Current state of knowledge on the prevalence of neurodevelopmental disorders in childhood according to DSM-5: A Systematic Review in Accordance with the PRISMA Criteria. Childhood and Adolescent Psychiatry and Mental Health, 16(27), 1-15.

Gerhards, L. (2023). Gelingensbedingungen für eine neurodiversitätssensible Schule – Eckpunkte für pä-dagogisches Handeln. In C. Lindmeier, M. Grummt, & M. Richter (Eds.), Neurodiversität und Musikpdäagogik (pp. 89-101). Kohlhammer.

Gerland, J. (2020). Zeit für Inklusion? Überlegungen zur Relevanz von Zeit, Inklusion und Musik für ein gelingendes Leben. Zeitschrift Ästhetische Bildung, 12(1), 276-290.

Godau, M. (2022). Digitale Medientechnologien und Inklusion. In H. Klingmann & K. Schilling-Sandvoß (Eds.), Musikunterricht und Inklusion. Grundlagen, Themen- und Handlungsfelder (pp. 167-183). Helbling.

Gotling, N., Hüttner, J., Proyer, M., & Schlick, M. (2024). Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht: Hochschuldidaktische Überlegungen und Erfahrung zur Englischlehrer*innenbildung bezüglich Neurodiversität. Fremdsprachen Lehren und Lernen, 53(2), 74-87.

Grummt, M. (2023). Einführung in das Paradigma der Neurodiversität. In C. Lindmeier, M. Grummt, & M. Richter (Eds.), Neurodiversität und Autismus (pp. 11-28). Kohlhammer.

Grummt, M. (2025). Neurodiversität. Die Sehnsucht nach kultureller Anerkennung, die Macht der neurotypischen Gesellschaft und Ansprüche an neurodiversitätsreflexive Pädagogik. Beltz Juventa.

Haider, S., Jencio-Stricker, E., & Schwanda, A. (2023). Autismus und Schule. Inklusive Rahmenbedingungen für Lehren, Lernen und Teilhabe. Springer.

Henning, I. (2022). Musiktherapie und Musikpädagogik aus inklusivem Blickwinkel. In H. Klingmann & K. Schilling-Sandvoß (Eds.), Musikunterricht und Inklusion. Grundlagen, Themen- und Handlungsfelder (pp. 193-206). Helbling.

Honeybourne, V. (2018). The Neurodiverse Classroom. A Teachers’ Guide to Individual Learning Needs and How to Meet Them. Jessica Kingsley Publishers.

Huhn, M. (2019). Individualisierung und Barrierefreiheit im Musikunterricht. Methoden der Ensem-blearbeit im inklusiven Kontext. In B. Baumert & M. Willen (Eds.), Zwischen Persönlichkeitsbildung und Leistungsentwicklung. Fachspezifische Zu-gänge zu inklusivem Unterricht im interdisziplinären Diskurs (pp. 192-201). Julius Klinkhard.

Hümpfer-Gerhards, L., Fuhrmann, S., Schwager, S., Kleres, J., Kunert, J., Benecke, M., Knigge, M., & Moser, V. (2024). Schule und Autismus – schAUT. Barrieresensible Gestalung inklusiver Schulen. Eine Handreichung. White Unicorn.

Kapp, S. K. (2020). Introduction. In S. K. Kapp (Ed.), Autistic Community and the Neurodiversity Movement Stories from the Frontline (pp. 1-22). Palgrave Macmillan.

Kim, C.-L. (2025). Gehörlossein und Musik. Musik mit Blick auf Gebärdensprache und Gehörlosenkultur.

Klingmann, H., & Schilling-Sandvoß, K. (Eds.). (2022). Musikunterricht und Inklusion. Grundlagen, Themen- und Handlungsfelder. Helbling.

Laufer, D., & Vogel, C. (2022). Musikunterricht inklusiv. Grundlagen und Praxisideen für die Klassen 1-6. Helbling.

Laufert, D. (2019). Zwischen Persönlichkeitsbildung und Leistungsentwicklung. Fachspezifische Zugänge zu inklusivem Unterricht im interdisziplinären Diskurs. In B. Baumert & M. Willen (Eds.), Zwischen Persönlichkeitsbildung und Leistungsentwicklung. Fachspezifische Zugänge zu inklusivem Unterricht im interdisziplinären Diskurs (pp. 182-191). Julius Klinkhardt.

Lindmeier, B. (2025). Masking bzw. Camouflaging als eine zentrale Strategie autistischer Mädchen –Bewältigungsstrategie und zugleich selbst eine Belastung? . In E. Bešić, D. Ender, & B. Gasteiger-Klicpera (Eds.), Resilienz. Inklusion. Lernende Systeme (pp. 167-174). Julius Klinkhardt.

Löbbert, C., & Ziegenmeyer, A. (2025). Inklusion und Musikunterricht in der Sekundarstufe 1: Eine Annäherung. In G. Brunner, D. Fiedler, & S. Schmid (Eds.), Welchen Musikunterricht braucht die Sekundarstufe 1? Konzeptionelle und unter-richtsspezifische Beiträge zu einem zukunftsfähigen Musikunterricht (pp. 338-349).

Lutz, J. (2020). Musik erleben – Vielfalt gestalten – Inklusion ermöglichen. Anregungen für den Musikunterricht und den Grundschulalltag. Klett/ Kallmeyer.

Maïano, C., Normand, C. L., Salvas, M.-C., Moullec, G., & Aimé, A. (2016). Prevalence of School Bullying Among Youth with Autism Spectrum Disorders: A Systematic Review and Meta-Analysis. Autism Research: Official Journal of the International Society for Autism Research, 9(6), 601-615.

Merkt, I. (2019). Musik – Vielfalt – Integration – Inklusion. Musikdidaktik für die eine Schule. ConBrio.

Milton, D. (2019). Difference Versus Disability: Implication of Characterisation of Autism for Educa-tion and Support. In R. Jordan, J. M. Roberts, & K. Hume (Eds.), The Sage Handbook of Autism and Education (pp. 3-11). Sage.

Moser, V. (2025). Das schAUT Projekt: Materialien zur Reduktion von Barrieren für autistische Schüler:innen. Behindertenpädagogik 2(64), 180-192.

Pautsch, L., Vasiljevic, K., & Kluge, O. (2025). Gruppen mit erhöhter Vulnerabilität. In M. Böhmer & G. Steffgen (Eds.), Angst an Schulen. Ursachen, Auswirkungen und Wege der Unterstützung (pp. 163–217). Springer.

Quinn, P. O. (2005). Treating adolescent girls and women with ADHD: gender-specific issues. Journal of Clinical Psychology, 61(5), 579-587.

Rommel, C., & Rommel, J. (2025). Neurodiversität in der Musikpädagogik Ideen zur Gestaltung neuroinklusiver Ler-numgebungen. üben & musizieren 2, 38.

Russel, A. E. (2022). Neurodevelopmental disorders and attendance at school. In K. Finning, T. Ford, & D. A. Moore (Eds.), Mental Health and Attendance at School (pp. 78-105). Cambridge University.

Sallat, S. (2018). Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Musikunterricht. In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz, & C. Stöger (Eds.), Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse. (pp. 113-123). Waxmann.

Schauwecker, Y. (2024). Das Prinzip der Differenzierung: Die Vorbereitung Lehramtsstudierender auf den Umgang mit Neurodiversität im Französischunterricht. Fremdsprachen Lehren und Lernen, 53(2), 88.

Schilling-Sandvoß, K. (2022). Musikunterricht und Inklusion – Eine Einführung. In H. Klingmann & K. Schilling-Sandvoß (Eds.), Musikunterricht und Inklusion. Grundlagen, Themen- und Handlungsfelder (pp. 7-10). Helbling.

Schuchardt, K., Grube, D., & Mähler, C. (2013). ,Schwierige Kinder’ von Anfang an? Aufmerksamkeitsprobleme als Risikofaktor für die Schulfähigkeit. Kindheit und Entwicklung, 22(4), 217-223.

Shannon, D. B. (2020). Neuroqueer(ing) noise: beyond ‘mere inclusion’ in a neurodiverse early childhood classroom. Canadian Journal of Disability Studies, 9(5), 489-514.

Sinclair, J. (1993). Don’t Mourn for Us. Our Voice, 1(3).

Singer, J. (1999). ,Why can’t you be normal for once in your life?’ From a ,problem with no name’ to the emergence of a new category of difference. In M. Corker & S. French (Eds.), Disability discourse (pp. 59-67). McGraw-Hill.

Smith, C. (2023). Reneé Rapp: „I now love my ADHD, it helps my creative process“. Retrieved 01.10.2025 from https://www.officialcharts.com/chart-news/renee-rapp-snow-angel-interview/

Stewart-Meli, T., & Lozada, V. A. (2025). Diversity in Music Education: Honoring the Languages, Literacies, Abilities, and Cultures of All National Association for Music Education. Bloomsbury Publishing.

Theunissen, G. (2020). Autismus – das neue Verständnis aus der Außensicht in Anlehnung an Vorstellungen von Betroffenen. In G. Theunissen (Ed.), Autismus verstehen. Außen- und Innensichten (Vol. 2, pp. 21-101). W. Kohlhammer.

Theunissen, G., & Sagrauske, M. (2025). Pädagogik bei Autismus. Eine Einführung (Vol. 2). W. Kohlhammer.

Tierbach, J. (2021). Der Umgang mit (Neuro-)Diversität im Kontext einer teilhabeorientierten Pädagogik. Zeitschrift Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 44(6), 49-55.

Waldschmidt, A. (2020). Jenseits der Modelle: Theoretische Ansätze in den Disability Studies. In D. Brehme, P. Fuchs, S. Köbsell, & C. Wesselmann (Eds.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung (pp. 56-73). Beltz Juventa.

Walker, N. (2014). Neurodiversity: Some basic terms & definitions. Retrieved 01.10.2025 from https://neuroqueer.com/neurodiversity-terms-and-definitions/

Walker, N. (2021). Neuroqueer Heresies: Notes on the Neurodiversity Paradigm, Autistic Empowerment, and Postnormal Possibilities. Autonomous Press.

Walker, N., & Raymaker, D. (2021). Toward a Neuroqueer Future: An Interview with Nick Walker. Autism in Adulthood, 3(1), 5-10.

 

  1. Obwohl die Begriffe Behinderung und Neurodiversität nicht gleichzusetzen sind, lassen sich im gesellschaftlichen Erleben von behinderten und neurodivergenten Personen zahlreiche Parallelen erkennen. Gerhards (2023, S. 90) weist darauf hin, dass beide Konzepte in ähnlicher Weise als Außenperspektiven auf Menschen verstanden werden können, deren Wahrnehmungs-, Denk- oder Handlungsweisen von den Normen der Mehrheitsgesellschaft abweichen.

  2. Wie im späteren Verlauf noch erläutert wird, umfasst inklusiver (Musik-)Unterricht grundsätzlich immer auch neuroinklusive Ansätze.Um jedoch die besonderen Implikationen einer neurodiversen Schüler*innenschaft in dieser Handreichung gezielt in den Blick zu rücken, werde ich im folgenden Text den Klammerbegriff „(neuro-)inklusiv“ verwenden.

  3. Dieses Verständnis von Neurodivergenz hat viele Überschneidungen mit dem kulturellen Modell von Behinderung demzufolge „es sich bei Behinderung nicht allein um eine Form gesellschaftlicher Benachteiligung handelt, sondern auch um eine kulturell und historisch spezifische Problematisierungsweise von Auffälligkeit und Abweichung“ (Waldschmidt, 2020, S. 67). Mit dieser Perspektivierung auf Behinderung verschiebt sich der Fokus insbesondere auf Diskurse und Praktiken, durch die Behinderung als Differenzkategorie überhaupt erst hergestellt wird. Behinderung bzw. Neurodivergenz wird so zur analytischen Kategorie, mit dem Ziel einer „kritische[n] Analyse ausgrenzender Wissensordnungen und der durch sie hergestellten Realität“ (Waldschmidt, 2020, S. 67).

  4. Die meisten Prävalenzzahlen liegen für das gesamte Spektrum neurodivergenter Variationen nur unzureichend vor (Francés et al., 2022). Deutlich besser dokumentiert sind sie hingegen für einzelne neurologische Diagnosen wie Autismus oder ADHS. Grundsätzlich wird angenommen, dass deutlich mehr neurodivergente Kinder und Jugendliche beispielsweise unter Ängsten und Angststörungen leiden, als die offiziellen Zahlen nahelegen. Da jedoch die meisten Studien Betroffene ohne formale Diagnose nicht berücksichtigen, sind solche Annahmen mit Vorsicht zu bewerten (Pautsch et al., 2025, S. 174–175; Day, 2022, S. 3).

  5. Dennoch ist an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass – während einige Betroffene einen erheblichen Leidensdruck verspüren und auf medikamentöse oder psychotherapeutische Unterstützung angewiesen sind – andere neurodivergente Personen ein Leben führen, in dem ihre neurologische Normabweichung keine große Rolle spielt (Russel, 2022).

  6. Ein weiteres konkretes Beispiel bietet hier zudem die Arbeit von Chae-Lin Kim (2025), in der sie sich mit der „Gehörlosenstimme“ beschäftigt und untersucht, wie Gebärdensprache im musikalischen Kontext sicht- und hörbar gemacht werden kann. In ihrer Arbeit hinterfragt und erweitert Kim ein etabliertesMusikverständnis, das sich in der Regel ausschließlich an hörenden Menschen orientiert. Ihre Arbeit ist damit ein gelungenes Beispiel dafür, wie musikalische Praxis bestehende Normvorstellungen von Musik irritieren und transformieren und so zur Erweiterung des musikbezogenen Diskurses um inklusive und diversitätssensible Perspektiven beitragen kann.

  7. So betont etwa die Sängerin Reneé Rapp in einem Interview zu ihrem Album Snow Angel (2023), dass sie mit der Zeit gelernt habe, ihr ADHS im Zusammenhang ihrer kreativen Arbeitsprozesse wertzuschätzen:„I didn’tknoworunderstandwhatit was, but now I do and I reallylove it. I think it helps me a lot. When I’m writing a song, ten songs are coming out of that concept. My brain is in ten different places. I actually really enjoy it. It’s exhausting, don’t get me wrong, but it’s really fun“ (Rapp in officialcharts.com, 2023). Solche positiven Bezugnahmen auf Neurodivergenzen wie ADHS können betroffene Schüler*innen darin bestärken, eigene Unsicherheiten zu überwinden und vermeintliche Schwächen als individuelle Ressourcen zu erkennen.

  8. Vgl. hierzu etwa Michael Huhns Beitrag „Individualisierung und Barrierefreiheit im Musikunterricht. Methoden der Ensemblearbeit im inklusiven Kontext“ (2019) oder Laufers Überlegungen zu einem „Vielfältigen Musikunterricht“ (2019) für praxisorientierte Ansätze, die verschiedene der im Text aufgezählten Differenzierungsperspektiven miteinander verbinden. Auch die Ausgabe der Diskussion Musikpädagogik mit dem Themenschwerpunkt „Sprachsensible Musikpädagogik“ (2023) bietet hierzu vielfältige Impulse und Praxisbeispiele.

  9. Beispielhaft lässt sich hier etwa die App „NodeBeat“ nennen, mit der sich elektronische Musik auf spielerische Weise durch das Verknüpfen grafischer Elemente erzeugen lässt. Die App „ExplainEverything“ ermöglicht dagegen das Erstellen interaktiver Lernfolien, die mit Audioaufnahmen, Videos oder Links angereichert werden können und sich damit gleichermaßen für Schüler*innen und Lehrkräfte eignet. Für den Musikunterricht lohnt zudem ein Blick auf die Website der „Forschungsstelle Appmusik – Institut für digitale Musiktechnologien in Forschung und Praxis“, die seit mehreren Jahren zu musikalischen Praxen mit mobilen Digitalgeräten forscht und vielfältige Praxisideen, App-Empfehlungen sowie Literaturressourcen bereitstellt (vgl. forschungsstelle.appmusik.de).

  10. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass mögliche Transfereffekte von Musik – etwa in kognitiven, sprachlichen, motorischen oder sozio-emotionalen Bereichen – in der Inhaltsauswahl und Unterrichtsplanung unberücksichtigt bleiben müssten. Musikpädagogische, förderpädagogische und musiktherapeutische Zugänge schließen sich nicht aus, sondern können sich im Idealfall wechselseitig ergänzen(Henning, 2022, S. 204; Sallat, 2018, S. 117).